Leben bis Männer


Rene Martens aus der Wochenzeitung Zürich

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Leben bis Männer. Roman von Thomas Brussig (2001, S. Fischer) Besprechung von René Martens aus der Wochenzeitung, Zürich, 1.11.2001: Der Sport und die Literatur, sie seien zwei «feindliche Brüder», schrieb Marcel Reich-Ranicki einmal vor Jahren in der «Zeit» – und bewies damit schon früh, dass er nicht nur von Büchern nichts versteht. Gewiss, niemand braucht Romane über Fussballstars, die sich in Nobeldiskotheken prügeln, oder Trainer, die in Nobeldiskotheken koksen. Aber grundsätzlich ist der Sport reizvoll für SchriftstellerInnen – auffällig war bisher nur, dass die meisten nicht genau hingeschaut haben. Fussball, zum Beispiel, ist eine ideale Materie, weil es sich ja schon um Fiktion im weitesten Sinne handelt, wenn Spieler oder Trainer ihre grossen Erfolge Revue passieren lassen; erst recht, wenn Fans sich an ihre schönsten Erlebnisse erinnern. Das klingt oft geschönt, übertrieben oder gar mythisch aufgeladen, und über all die Jahre, im Laufe des ständigen Wiedererzählens, wird es immer weiter variiert, so dass es zusehends weniger zu tun hat mit dem, was irgendwann einmal die Wahrheit gewesen sein könnte. Besonders originell klingen solch spontane fussballbiografische Abrisse, wenn die Erzähler auf bizarre Weise abschweifen in die Politik und all das übrige Leben jenseits des Rasens. Eine Figur, die so redet, hat Thomas Brussig für «Leben bis Männer» geschaffen: einen Bierbäuchigen um die fünfzig, wie man ihn so oft auf dem Sportplatz um die Ecke trifft. Gestrandet ist er zwar noch nicht ganz, aber wirklich wichtig ist ihm ausser seiner Trainertätigkeit nichts. Der Protagonist blickt hier zurück auf rund zwei Jahrzehnte bei der BSG Tatkraft Börde, wo er immer dieselbe Mannschaft betreute («Kinder, Knaben, Schüler, Jugend, Junioren – bis Männer»). Sie war die heile Oase in einer Welt, in der es ansonsten «drunter und drüber geht». In Gefahr geriet die Idylle nur, wenn sich ein Spieler mit der falschen Frau einliess, mit «so ’ner Vegetarischen» zum Beispiel, «die philosophiert und liest und so». «Leben bis Männer» ist ein Monolog, und den Stil hat Brussig, bekannt geworden durch den Roman «Helden wie wir», geschickt dem Jargon nachempfunden, der typisch ist für die kleinen Männer des Fussballs. So lässt der Autor den einstigen Mann der Tatkraft, der selbstverständlich über alles Bescheid weiss, darüber schwadronieren, dass der Atombombenabwurf auf Hiroschima und Nagasaki auf die komplizierten Baseball-Regeln zurückzuführen sei: «Der Engländer, Fussball, klare Regeln, klare Sache. Als der Adolf denen Coventry zerdonnert hat, ist der Engländer auf Hamburg und Dresden los. Lag eins zu null zurück, der Engländer, hats aber drehen können: zwei – eins. Aber der Amerikaner, der schmeisst gleich zweimal die Atombombe, wegen Pearl Harbor. Aber eigentlich wegen Baseball. Der Amerikaner schert sich null Komma nichts um Regeln, hat er ja auch nie gelernt, bei seinem Baseball.» Wie so viele kleine Loser versucht sich auch Brussigs Trainer in grosse Zusammenhänge hineinzufantasieren, und als Vehikel dient ihm dabei jener Spieler, der der DDR bei der WM 1974 den legendären 1:0-Sieg gegen die Bundesrepublik bescherte: «Sparwasser spielte beim 1. FC Magdeburg, war aus unserer Gegend hier, aus Halberstadt. Im Nachwuchsbereich wurde ich sicher auch mal gegen ihn aufgestellt. Und wir sind derselbe Jahrgang, der Jürgen und ich.» An manchen Stellen mag Brussig diesen Ton nicht durchhalten, da lässt er sich dazu verleiten, in seine Figur zu schlüpfen, und legt ihr beispielsweise Bösartiges in den Mund über den Mythos des genialischen Strassenfussballers aus armen Verhältnissen: «Die besten Fussballer sollen ja aus den Slums kommen. Wenn das stimmt, gibts in Deutschland bald tolle Spieler.» Formal erinnert «Leben bis Männer» an Nanni Balestrinis Roman «I Furiosi», der ausschliesslich montiert ist aus Zitaten von Hooligans des AC Milan. Während aber Balestrini jene, die ihm sein Rohmaterial lieferten, ernst nimmt, überzeichnet Brussig seinen monologisierenden Icherzähler gelegentlich zur Karikatur. Das stört kaum, zumal dieser Makel durch zahlreiche Bonmots aufgewogen wird. «Ich übrigens brülle nicht», sagt der Trainer einmal. «Es sieht aus wie Brüllen, aber in Wirklichkeit ist es Denken, sehr leidenschaftliches Denken.» Etwas Treffenderes ist über einen der wesentlichen Aspekte des Fussballs bisher selten gesagt worden.



Besprechung von René Martens aus der Wochenzeitung, Zürich, 1.11.2001: Leben bis Männer